Wurzeln des Kum Nye

  1.  Traditionelle tibetische Medizin
  2.  Das Yoga der feinstofflichen Energien
  3.  Der Vinaya 

Die traditionelle Medizin Tibets ist eine Naturheilkunde,

die stark von den Heilmethoden Indiens und Chinas beeinflusst wurde. Sie geht davon aus, dass alle Krankheiten, körperliche wie geistige; durch ein Ungleichgewicht von Energieflüssen verursacht werden. Diese Disharmonie entsteht durch einseitige Ernährung, eine ungesunde Lebensführung, Umwelteinflüsse sowie vor allem durch unheilsame geistige Einstellungen. Diese Faktoren können sich natürlich auch miteinander verbinden, was in der Praxis auch meistens geschieht, und so eine sich gegenseitig verstärkende Rückkoppelungsschlaufe bilden.

In den Begriffen der heutigen Zeit könnte man die tibetische Medizin vor allem als eine präventive Maßnahme bezeichnen: Durch geeignete Mittel
und Übungen werden Körper und Geist harmonisiert, damit Krankheiten vermieden werden bzw. ihr Verlauf gelindert wird.

Kum Nye ist also  keine Methode, um gezielt bestimmte Krankheiten zu behandeln. Es ist keine Technik im westlichen Sinn: Wenn dies ausgeführt wird, hat es jene Wirkung.  Wie alle traditionellen Heilkünste betrachtet auch die medizinische Tradition Tibets Körper und Geist als eine Einheit.

Sie ist daher eine psychosomatische Medizin, wie wir es heute ausdrücken würden, behandelt also nicht nur in erster Linie Krankheitssymptome, sondern vor allem die dahinterliegenden Ursachen.

Und die sind, auch nach den Erkenntnissen unserer westlichen Medizin, zum großen Teil psychischer Art. Die innere Einstellung zu den unvermeidlichen Wechselfällen des Lebens bestimmt entscheidend, ob Krankheiten entstehen und wie sie verlaufen.

Das Yoga der feinstofflichen Energien

Die zweite der von Tarthang Tulku erwähnten drei Wurzeln von Kum Nye ist das Yoga-System des Nying-thig tsa-lung, das Yoga der feinstofflichen
Energien. Es wurde und wird hauptsächlich in intensiven Zeiten der Zurückgezogenheit praktiziert, z.B. im traditionellen Drei-Jahres-Retreat.

Das tibetische Wort Nying-thig (sNying-thig) bedeutet „,Essenz”, das Wesentliche in äußerst konzentrierter Form. Tsa (tsa) sind die Energie-
kanäle (Sanskrit: Nadi), entlang denen die feinstofflichen Energien Körper und Geist durchströmen. Und Lung (rung) ist das tibetische Wort für
diese feinstoffliche Energie (Sanskrit: Prana), die in den Kanälen und Zentren (Sanskrit: Chakras) des Energiekörpers kreist.

Die Kum-Nye-Ubungen regen also den Fluß der feinstofflichen Energie (Lung) von Körper und Geist an, harmonisieren ihn und lösen Blockaden
in den Energiebahnen (Tsa) auf. Es ist ein ähnlicher Gedanke, wie er auch den klassischen Hatha-Yoga-Übungen Indiens sowie den fernöstlichen
Übungswegen und Heilmethoden (Tai Chi, Qi Gong, Shiatsu, Akupunktur, Akupressur) zugrunde liegt.

Der Vinaya

Die traditionellen buddhistischen Schriften des Vinaya, die dritte Wurzel von Kum Nye, lehren, wie wir in Harmonie mit uns selbst und unserer
Umwelt leben können. Die tibetische Kultur war seit dem 9. Jahrhundert völlig vom Gedankengut des Buddhismus geprägt, und auf diesem Hinter-
grund ist Kum Nye entstanden.
Kum Nye ist aber kein traditioneller Buddhismus, sondern steht jedem Menschen offen, ist frei von allen ideologischen Zwängen. Der Buddhismus und ebenso Kum Nye hält wenig von Dogmen und Glaubensbekenntnissen, sondern richtet sich an die unmittelbare Erfahrung des Menschen: Was fördert eine gesunde geistige Entwicklung, was behindert sie?
Kurz gesagt: Der Vinaya lehrt, wie wir ein nach innen und außen harmonisches Leben führen können. Und das ist unmöglich, solange uns und andere ständig manipulieren. Diese Manipulation, von ganz offensichtlichen Formen bis hin zu sehr subtilen Dimensionen, geschieht im Wesentlichen durch bestimmte geistige Haltungen, die traditionell „die Drei Geistigen Gifte” “genannt werden, weil sie unsere gesamte Erfahrungswelt vergiften: „Das will ich haben’ ” (Festhalten), „das soll nicht sein” (Ablehnung) und „das interessiert mich nicht” bzw. „ich weiß schon, was es ist” (gleichgültige Ignoranz bzw. Ansichten und Vorurteile).

In allen Fällen distanzieren wir uns von der gegebenen Situation und versuchen, sie entsprechend unseren Meinungen zu manipulieren. Es ist
genau dieses Festhalten einer dynamischen Wirklichkeit und die damit verbundene innere und äußere Manipulation, die zu den Blockaden der fein-
stofflichen Energieflüsse führt.

(Text aus Matthias Steurich, Tibetisches Heilyoga – Kum Nye, Seite 11-14)